Gratis Inserat

Jenseits der US-Zwischenwahlen: Die Schweizer Antwort auf die Blockade des Kongresses

von lars     Dienstag 25.10.2022     0 Kommentare



Es ist bekanntermassen schwer, in den USA neue Gesetze zu verabschieden, und nur wenige glauben, dass die bevorstehenden Kongresswahlen dieses Problem lösen werden. Könnte das Schweizer "People Power"-Modell helfen?

Das politische System der USA scheint auf Stillstand ausgelegt zu sein. Die beiden Kammern des Kongresses werden häufig von unterschiedlichen Parteien kontrolliert.

Im Senat gibt es seit langem Verfahren, die es der dortigen Minderheitspartei ermöglichen, die meisten wichtigen Gesetze zu blockieren, wenn sie nicht von mindestens 60 der 100 Senatoren unterstützt werden.

Und gegen alles, was der Kongress verabschiedet, kann der Präsident sein Veto einlegen (um das Veto zu überstimmen, ist eine Zweidrittelmehrheit in Repräsentantenhaus und Senat erforderlich).

All dies bedeutet, dass die politischen Sterne günstig stehen müssen, damit die Bundesregierung etwas erreichen kann - selbst überwältigend populäre Gesetze werden im Kongress verwelken.

Massnahmen wie die Anhebung des Mindestlohns, die Verabschiedung von Waffenkontrollgesetzen oder die Einwanderungsreform finden zwar breite Unterstützung, werden aber in Washington nicht umgesetzt.

Das hat einige Amerikanerinnen und Amerikaner frustriert - zwei zu eins sind sie der Meinung, dass sich die Nation in die falsche Richtung bewegt.

Wäre es nicht toll, wenn die Bürgerinnen und Bürger eine neue Politik beschliessen könnten und die Regierung sie dann umsetzen würde?

Was passiert also in der Schweiz?

Fast alle wichtigen politischen Entscheidungen werden an der Wahlurne getroffen.

Die Wählerinnen und Wähler gehen viermal im Jahr in landesweiten Abstimmungen an die Urnen. Im Jahr 2022 wurden sie gebeten, über 11 verschiedene Themen zu entscheiden, von einem vollständigen Verbot von Tierversuchen (abgelehnt) bis zur Erhöhung des Rentenalters für Frauen (angenommen).

Es gibt auch regelmässige Abstimmungen auf regionaler und sogar auf Dorfebene, um über lokale Themen zu entscheiden.

Schon im Mittelalter haben die Schweizer die Dinge etwas anders gehandhabt - während ihre Nachbarn Feudalherren mit absoluter Macht hatten, gab es in einigen Schweizer Regionen "Landgemeinden", in denen sich die Bürgerinnen und Bürger auf dem Dorfplatz versammelten, um Politik zu machen.

Die einzigen Voraussetzungen, um wählen zu können? Ein Schwert zu tragen und männlich zu sein (dazu später mehr).

Diese Art des Regierens "von unten nach oben" wurde für das Überleben und Gedeihen der Schweiz als unerlässlich angesehen.

Die Schweiz ist ein kleines, aber sehr vielfältiges Land mit vier Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch). Es gibt abgelegene Bauerngemeinden hoch in den Alpen und städtische Zentren in Zürich oder Genf.

Jeder, so die Überlegung, muss das Gefühl haben, dass seine Stimme gehört wird.

Wie funktioniert das also?

Nehmen wir an, du möchtest allen Arbeitnehmern einen längeren Urlaub gewähren.

Formuliere deinen Vorschlag, sammle 100.000 Unterschriften von Mitbürgern und ein landesweites Referendum wird stattfinden.

So geschehen im Jahr 2012, als die Wähler einen Vorschlag zur Erhöhung des gesetzlichen Urlaubs abgelehnt haben, nachdem Wirtschaftsführer davor gewarnt hatten, dass dies zu teuer wäre.

Oder nehmen wir an, du bist mit einem neuen Gesetz, das das Parlament bereits verabschiedet hat, nicht zufrieden. In diesem Fall brauchst du nur 50.000 Unterschriften und das vorgeschlagene Gesetz wird dem Volk vorgelegt. Aber das verlangsamt die Dinge.

Die Schweizer Frauen bekamen das Wahlrecht erst 1971, schockierend spät im Vergleich zum Rest Europas, und es brauchte nicht nur eine, sondern zwei landesweite Abstimmungen, an denen nur Männer teilnehmen konnten.

Viele Schweizerinnen, die ich kenne, sind mit Müttern aufgewachsen, die jahrelang für das Wahlrecht gekämpft haben.

"Eines der Argumente dagegen war, dass die Gehirne von Frauen zu klein seien", erinnert sich die Journalistin Gaby Ochsenbein. "Das haben sie wirklich gesagt."

Heute glaubt sie, dass die Macht, die eine Stimme in der Schweiz haben kann, zur Teilnahme ermutigt. "Ich habe noch nie eine Abstimmung verpasst, und meine Töchter auch nicht."

Welche anderen Nachteile gibt es?

Einige Schweizer befürchten, dass das System missbraucht werden könnte.

Da nur 100.000 Unterschriften nötig sind, um ein Referendum zu erzwingen, landen sehr viele Dinge an der Wahlurne.

Manche sind ziemlich harmlos, wie die Kampagne eines Mannes für Subventionen für Landwirte, die ihren Kühen die Hörner belassen. Das wurde 2018 abgelehnt.

Aber andere, so argumentieren einige Analysten, sind einfach Mittel für politische Parteien, um ihre Agenda in der Öffentlichkeit zu halten. Die rechtsgerichtete Schweizerische Volkspartei sammelt regelmässig genügend Unterschriften, um über Einwanderungsthemen abstimmen zu lassen.

Wählermüdigkeit ist auch ein Risiko, wenn so viele, oft komplexe, Entscheidungen zu treffen sind. Bei lokalen Abstimmungen kann die Wahlbeteiligung unter 30% liegen.

Mehr zu dieser Serie, Suche nach einer Lösung

NORWEGEN: Die jüngsten Politiker der Welt


FINNLAND: Führend im Kampf gegen Fake News


BOLIVIEN: Wie es die Gleichstellung der Geschlechter in der Politik geschafft hat

Was halten die Schweizer von all dem?

Frag die Schweizerinnen und Schweizer, ob sie ihr ungewöhnliches System aufgeben würden, und die grosse Mehrheit wird Nein sagen.


Einige werden Änderungen vorschlagen, wie z. B. die Erhöhung der Anzahl der erforderlichen Unterschriften, aber eine völlige Abschaffung des Systems ist undenkbar.


"Die direkte Demokratie ist dazu da, dass die Bevölkerung das Parlament kontrolliert", sagt ein Kollege. "Und es ist auch eine Möglichkeit, die Interessen der Bevölkerung in das politische System einzubringen."


Das System unterstützt die lange Tradition des Konsenses in der neutralen Schweiz. Es gibt keine erbitterten Konfrontationskämpfe zwischen den grossen politischen Parteien; die Aufgabe der Regierung ist es, die Wünsche des Volkes umzusetzen, die an den Wahlurnen zum Ausdruck kommen.


Politikerinnen und Politiker dürfen sich hier nicht zu sehr in den Vordergrund drängen, und genau so mögen es die Schweizerinnen und Schweizer.

Könnte das auch in den USA funktionieren?

Obwohl es in den USA auf nationaler Ebene nichts gibt, was mit dem Schweizer Referendumssystem vergleichbar wäre, sind ähnliche Verfahren auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene durchaus üblich.


In den letzten Jahren haben die Bundesstaaten Marihuana entkriminalisiert, den Mindestlohn erhöht, Wahlreformen durchgeführt und das Glücksspiel durch Volksabstimmungen legalisiert.


Anfang der 2000er Jahre setzten sich die Konservativen für ein Verbot der Homo-Ehe ein. In diesem Jahr haben die Liberalen einen Vorstoss unternommen, um den Schutz der Abtreibung auf die Wahlzettel zu setzen.


Kalifornien, dessen Bevölkerung mehr als viermal so gross ist wie die der Schweiz, ist wahrscheinlich der Staat, der am besten für die Durchführung von Volksabstimmungen bekannt ist.


Das dortige System hat sich jedoch als etwas schwerfällig erwiesen.


Kritiker sagen, dass die Formulierungen in den Wahlvorschlägen oft verwirrend oder irreführend sind. Und einige der beschlossenen Massnahmen, wie z. B. die obligatorischen Ausgaben für öffentliche Schulen, haben es schwieriger gemacht, tragfähige Staatshaushalte zu erstellen. Andere haben zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten geführt und politische Spaltungen entfacht.


Die Kämpfe um Wahlmassnahmen werden häufig mit millionenschweren Werbekampagnen geführt, die komplexe politische Themen stark vereinfachen und die Wähler/innen noch mehr verunsichern, was tatsächlich auf dem Spiel steht.


All diese Bedenken könnten sich noch verstärken, wenn Volksabstimmungen in einem Land mit 257 Millionen stimmberechtigten Amerikanern durchgeführt würden.


Das US-amerikanische System, das die Verabschiedung wichtiger gesetzgeberischer Massnahmen erschwert, ist von vornherein schwierig - denn die Schöpfer der US-Verfassung hatten ein Misstrauen gegenüber zentralisierter Regierungsmacht.


Es gibt viele Amerikanerinnen und Amerikaner, die das immer noch so sehen. Die Ablehnung der Politik des "grossen Staates" ist ein zentraler Grundsatz des amerikanischen Konservatismus.


Die USA sind eine riesige kontinentale Nation, und viele Bewohner der republikanisch regierten Bundesstaaten im Landesinneren und im Westen der USA wollen nicht, dass ihre Politik vom fernen Washington diktiert wird - oder von den Millionen Wählern in den Küstenmetropolen durch ein Referendumssystem.





Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.







Vorheriger Beitrag:
Nächster Beitrag:


WhatsApp